Literarische Mediation

Ein Blog von Kerstin Lück

Die Beschwerden der kleinwüchsigen Mademoiselle Strakon an den Autor Thomas Hettche von „Pfaueninsel“ 2014

Sie haben mein Leben für die Nachwelt löblich ausgemalt. Niemand wusste etwas über mich vor Ihrem Seiden-Batist-Bildungsroman „Pfaueninsel“ (2014).
Und dennoch muss ich mich beschweren über vielerlei:

Beschwerde 1: Sie haben mich erneut zum Opfer gemacht durch den Blick des Königs, den ich angeblich gelernt hätte zu genießen, so sehr, dass ich die Blicke meines späten Liebhabers mehr ersehnte als die gemeinsame Erfüllung unseres Begehrens. Was fiel Ihnen da nur ein?

Das Angestarrt-werden ist für alle qua Geburt abweichend Aussehenden doch eine Qual, was für eine perfide Umdrehung, daraus Lust werden zu lassen. Oder ist es Ihre Lust mein Herr?

Beschwerde 2: Sie haben mir eine Liebe zugedacht und sie dann zum Mörder werden lassen. Weder das Eine noch das Andere verstehe ich nach Lektüre. Mir fehlen die Eigenschaften, die ich geliebt hätte: Mitgefühl, Unkonventionalität in Sachen Schönheit, Bildung des Herzens.
Jetzt soll er bisexuell gewesen sein und auch meinen Bruder begehrt haben. Ist eigentlich die doppelte Eifersucht auf mich und meinen Bruder sein Tatmotiv im Affekt? So unbeherrscht wird er nicht beschrieben. Also weder, warum ich ihn geliebt haben soll, noch warum er getötet haben soll, scheint mir verständlich.

Beschwerde 3: Hier muss ich meiner großen Empörung Luft machen: Sie beschreiben, dass ich in Vorbereitung erotischer Erfüllung, meinen ganzen Körper rasierte. Die Komplettrasur ist doch eine Praxis des ausgehenden 20. Jahrhunderts und im 19.Jhd. selten üblich gewesen. Und nun soll die schon angezogen wie ein Mädchen aussehende kleinwüchsige Frau auch im Intimen die Rasur zur Mädchenhaftigkeit geführt haben? Das ist doch eher Ihre erotische Fantasie der Jetztzeit?

Beschwerde 4: Durch das Einfrieren aller meiner Sehnsüchte für lange Zeit (ca. 100 Seiten bis zum Besuch des Kochs in Berlin), nachdem mein Geliebter meinen Bruder umgebracht hat und für diesen Mord nicht bestraft wurde, sondern sogar noch belohnt wurde, und nachdem er mir unser gemeinsames Kind weggenommen hatte, bin ich um jedwede Gestaltungsmöglichkeit meines Schicksals gebracht worden. Mir wurde von Ihnen keine Auseinandersetzung mit Gustav, keine Flucht von der Insel, keinerlei Aufbegehren gestattet. Still und ärmlich wurde ich alt. Nur meinen Selbstmord durfte ich mit der phallischen Zigarre im Mund zum großen Knall im heruntergekommenen Palmenhaus inszenieren. Na, vielen Dank auch.
Was ich liebte: Anfassen und Angefasst werden, die, die ich liebte oder schätzte. Als Mensch geliebt zu werden und nicht als Sensation begafft. Und geraucht habe ich nie.
Gelesen habe ich natürlich im Geheimen und von Schlemihl besorgt: Wally, die Zweiflerin von Karl Gutzkow, Büchner und natürlich die Gedichte von Heine.

(Christine Urspruch hätte ich gern im TV gesehen, wenn ich heute gelebt hätte.)

– Ausstehend die Antwort des Autors
– Ausstehend die Beauftragung eines Shuttle-Mediatoren-Teams zwischen den Zeiten und Welten

2 Comments

  1. Positiv ist die Umschlaggestaltung. Dieses betörende Blau ist ein absoluter Verkaufsgarant. Die Marie aber, tut mir von Herzen leid. Der Großmutter weggenommen (verkauft, ohne Halt , nur mit dem Bruder, der ihre Haltlosigkeit missbraucht.) Überhaupt der Missbrauch. Mich macht das Buch eher traurig als wütend. Die Explosion der Orangerie ist als einziger ein aktiver Schritt aus dem Ausweglosen. Herr Hettche hätte auch ohne Marie und die erotischen Verwicklungen (es könnten gerne andere sein) einen Roman schreiben können, der besser zum Umschlag gepasst hätte.

  2. Eine gute Idee und ein interessanter Blick auf Literatur! 🙂

    Insbesondere Beschwerde 4 fiel mit beim Lesen auch auf: Maries Persönlichkeit, alle Aktivität ihrer Jugend ist wirklich wie eingefroren und ihr Leben zieht rasch am Leser vorbei. Sie tritt in eine passive Rolle, die vorher so gar nicht in dem persönlichen, sehr intimen Eindruck, den der Leser gewährt bekommt, entwickelt wird. Ihr rebellisch inszenierter Tod wirkt im Kontrast dazu natürlich stärker, aber auch hölzern.
    Ich könnte mir vorstellen, dass dies möglicherweise auch an der essayhaften Struktur des gesamten Romans liegen könnte – immer wieder kürzere, episodenhafte Szenerien, dafür weniger im Gesamtkomplex ausdifferenziert.

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